Von Simon Schöpf
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Die Corona-Impfstoffe dominieren seit dem Ende des Jahres 2020 die Medien. Dabei werden in den klassischen, aber auch stärker in den sozialen Medien einerseits die naturwissenschaftlichen Fakten, andererseits die Themen wie „Pflichtimpfungen“ heftig diskutiert. Wir haben uns mit Jan Hinrichsen vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäischen Ethnologie (virtuell) getroffen, um ihn über seine Forschung zu interviewen. Der Kulturanthropologe und empirische Kulturwissenschaftler geht der Frage nach, wie Kultur und damit „Wissen“, „Technologie“, „Bedeutung“ buchstäblich unter die Haut geht und somit in den Körper kommt. Dazu begleitet er Wissenschaftler*innen, Pflegepersonal und Studienteilnehmer*innen einer mRNA-Impfstoffstudie.
Was ist ein eigentlich mRNA-Impfstoff?
Der mRNA-Impfstoff stellt dem menschlichen Körper den Bauplan des Spike-Proteins des Coronavirus zur Verfügung. Das Spikeprotein ist vergleichbar mit einem Schlüssel, der dem (Covid19) Virus dient, um in eine menschliche Zelle einzudringen. Durch die Impfung bekommt die menschliche Zelle den Bauplan dieses „Schlüssels“ und kann ihn in ihren „Proteinfabriken“ (den Ribosomen) produzieren. Diese Ribosomen stellen auf diese Weise eine exakte Kopie des Spike-Proteins her. Der menschliche Körper lernt so, dieses Protein als „Feind“ zu erkennen und bekämpft es mit seinem Immunsystem. Käme es nun zu einer Ansteckung mit dem echten, krankheitserregenden Virus, erkennt das Immunsystem dieses sofort an seinem „Schlüssel“ und bekämpft es, bevor das Virus die Möglichkeit hat, sich auszubreiten und der Mensch krank wird. Die Ribosomen befinden sich in der Zelle, aber außerhalb des Zellkerns, in welchem sich unser Erbgut, die DNA, befindet. Somit kann ein mRNA-Impfstoff keinesfalls unsere DNA verändern oder beeinflussen. Die DNA befindet sich sehr gut geschützt – inklusive Sicherungskopie und eigener Codierung – im Kern.
Natur- und Kulturwissenschaften
Jan Hinrichsen arbeitet jedoch nicht als Naturwissenschaftler an der Erforschung dieser neuen Impfvariante mit. Er untersucht die verschiedensten Verhältnisse zwischen Körper und Gesellschaft. Der Forscher hält fest: „Kultur geht mit einer Spritze unter die Haut. Der Inhalt der Spritze ist ein hochkomplexes Wissensobjekt. […] Die Verabreichung dieser Spritze ist folglich eine hochkomplexe gesellschaftliche Praxis […] und die Felder ‚Inhalt und die Verabreichung‘, wenn man so will, untersuche ich.“ Die Idee für diese Forschung kam ihm bei einem Aufsatz über Immunität. Immunität bietet einen scheinbaren Gegenbegriff zur Verwundbarkeit. Mehr noch: Immunität enthält die Idee von Autonomie und Selbstermächtigung. Gleichzeitig bedingen sich Verwundbarkeit und Immunität einander – das eine kann ohne das andere nicht sein.
Kulturwissenschaftler im „Labor“
Methodisch begibt sich Jan Hinrichsen direkt ins Labor bzw. in eine Klinik und begleitet die Studienteilnehmer*innen sowie Forscher*innen bei ihrer täglichen Arbeit (Visiten, Screenings, Impf-Terminen usw.). Dies wird als Ethnographie oder als Praxiographie bezeichnet und verschafft dem Forscher einen „Blick von außen“, wodurch Selbstverständliches (aus der Sicht des klinischen Personals) „erstmal seltsam und fragwürdig erscheint“. Durch seine Anwesenheit ent-verselbständlicht er die Routinen und den Studienalltag, wodurch er eine neue Perspektive auf die klinische Forschung werfen kann. Diese Rolle als „Störfaktor“ muss der Kulturwissenschaftler dann permanent reflektieren. Zusätzlich führt Jan Hinrichsen Interviews mit den Beteiligten. Die Studienteilnehmer*innen sind dabei Testobjekte und Forschungssubjekte zugleich. Neben seiner kulturwissenschaftlichen Forschung hat es ihm besonders die Polymerase Kettenreaktion (PCR) angetan: „Wer sich für Wissenschaft und Technik interessiert, für den ist das ein Disneyland sondergleichen. Da blinkt und babbelt alles, diese großen Maschinen, die ganz tolle Namen haben […] also da ist sehr viel ‚Magie‘ im Spiel, das finde ich wirklich großartig.“ Gleichzeitig sind diese technisch höchst komplexen Verfahren und deren Ergebnisse von ganz banalen Dingen abhängig: Und schon kommt die Frage auf: Ist das PCR-Röhrchen auch richtig beschriftet worden?
Routinen und Impflinge
Besonders interessant findet Jan Hinrichsen die täglichen Routinen. Dazu zählen die banalen Dinge wie etwa das Ankreuzen und Ausfüllen von Formularen, das Fehlen von Batterien in Blutdruckmessgeräten etc. Auch das Durchhaltevermögen bzw. Aufgaben der Studienteilnehmer (im Fachjargon „Impflinge“ genannt) liefern dem Forscher spannende Einblicke hinter die Kulissen. Die Impflinge müssen nämlich rund 13-mal zum Impfen kommen, wobei bei jedem Termin Blut abgenommen wird, sowie Blutdruck und Fieber gemessen werden. Zusätzlich müssen die Teilnehmer*innen ein Impftagebuch führen, in dem sie die Nebenwirkungen der Impfung, wie beispielsweise Kopfschmerzen oder Krankheitssymptome, niederschreiben. „Hier ist eine große Menge Vertrauen im Spiel. Man muss einfach glauben, was die Proband*innen sagen. Wenn sie sagen: ‚Ich hatte keine Kopfschmerzen‘, dann ist das die Wahrheit und darauf muss man sich einfach verlassen und das ist ein interessanter Aushandlungsprozess“ hält der Forscher fest. Die Studienteilnehmer*innen müssen dazu ihren eigenen Körper sehr gut kennen. Nur so können sie „austarieren“, was eine Nebenwirkung der Impfung sein könnte bzw. was nicht. Bei den regelmäßigen Untersuchungen nehmen die Ärzt*innen dabei auch mehrere Rollen ein: einerseits als Forscher*innen, andererseits vergleichbare Aufgaben von Sozialarbeiter*innen. Sie machen Smalltalk und gehen auch auf die Sorgen und Ängste der Studienteilnehmer*innen ein.
„Kerngesund“
Ein weiterer Aspekt von Jan Hinrichsens Forschung ist die Kategorie „Gesundheit“. Er begleitet und untersucht eine Phase 1-Impfstudie (vgl. Links am Ende des Artikels). An dieser dürfen nur gesunde Menschen teilnehmen, um sicherzustellen, dass der verabreichte Impfstoff auch sicher ist. Doch was sind gesunde Menschen? Die Kriterien, um an der Studie teilnehmen zu können, entsprechen einem Idealbild von Gesundheit oder „normierten“ Körpern. Erst im Verlauf von Phase 2 und 3 werden diese Kriterien aufgeweicht, um ein besseres Bild hinsichtlich die Gesamtbevölkerung zu bekommen.
Impfgegner*innen
Das Thema Impfgegner*innen behandelt Jan Hinrichsen in seiner bisherigen Forschung noch nicht; jedoch wurde er mehrmals darauf angesprochen. Dazu erzählte er uns von einem interessanten Gespräch mit einer Teilnehmerin dieser Studie. Sie selbst würde sich nämlich nicht impfen lassen und würde nicht an der Studie teilnehmen. Sie beteiligte sich an der Studie, damit sich die „Gemengelage“, die sich unter dem Banner von „Querdenken“ versammelt hat, wieder auflöst, damit Impfskeptiker*innen nicht mehr in den „gleichen Topf“ wie Rechtsradikale oder Antisemit*innen geworfen werden. Ihre Hoffnung ist, dass der Impfstoff die Situation wieder beruhigt. Einer Impfpflicht steht Jan Hinrichsen kritisch gegenüber, denn „[hier würden] genau die Grenzen verhandelt, von denen ich glaube, dass sie das Konzept ‚Immunität‘ ins Wanken bringen. Autonomie, Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung. […] Die Frage nach der Impfpflicht lässt sich wissenschaftlich nicht lösen […] das ist eine politische Frage, für die ich mich nicht zuständig fühle. Ich habe Meinungen, aber die mögen irgendwie auch irrelevant sein.“
Wirtschaft und Technik als Akteur
Weitere Aspekte, die Jan Hinrichsen in seine Arbeit einarbeiten möchte, sind die ökonomischen Interessen, aber auch die Technik als eigenständiger Akteur in diesem hochkomplexen Themenbereich. Er schloss seine Ausführungen mit einer Anspielung an den französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour: „Wo müssen wir aufhören, Falten zu entfalten? An dem Punkt bin ich allerdings noch nicht.“
Weiterführende Links/Literatur:
Jan Hinrichsen, Universität Innsbruck
https://www.uibk.ac.at/geschichte-ethnologie/mitarbeiterinnen/univ-ass/jan-hinrichsen/
Technik als Akteur: Bruno Latour und Niklas Luhmann
Science and Technology Studies: Stefan Beck et al.
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2106-8/science-and-technology-studies/
Zulassung von Impfstoffen
https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/entwicklung-und-zulassung-von-impfstoffen/