Samstag, November 23

Wie werden aus Fremden Einheimische?

von Simon Schöpf
Lesezeit: ca. 7 Minuten

Ich beginne dieses Mal mit einer kleinen persönlichen Anekdote: Meine Mutter kam ursprünglich nicht aus meinem Heimatdorf und es dauerte über zehn Jahre, in denen sie dort gewohnt, gelebt und gearbeitet hat, bis sie als „Dåige“ („Einheimische“) anerkannt wurde – ihr Geburtsort lag ja auch sage und schreibe 10 km von ihrem Wahlheimatsort entfernt. Viele Studierende der Uni Innsbruck kennen vermutlich das Gefühl, sich an ihrem neuen Wohnort „fremd“ zu fühlen. Um herauszufinden, ob dieses „Fremdsein“ immer schon so war (und noch einiges mehr), baten wir Univ.-Prof. Dr. Levke Harders vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie vom Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck um ein Interview.

Foto © michelleschmollgruber

Migration im 19. Jahrhundert

Levke Harders untersucht Migration in Europa im 19. Jahrhundert. Dabei geht sie der Frage nach, welche Menschen in andere Regionen gingen und warum, und wie der Staat, die Einheimischen und Migrant*innen damit umgegangen sind. Wie hat sich Zugehörigkeit gestaltet und welche Rollen spielten dabei Geschlecht, Geschlechterverhältnisse und andere soziale Ungleichheitskategorien? Die Quellen für ihre Arbeit findet Harders im Archiv. In den staatlichen Archiven hinterließen die Migrant*innen leider nur begrenzt Spuren, dazu gehörten beispielsweise Einbürgerungs- und Niederlassungsakten. Auch Petitionen der Migrant*innen für die Niederlassung oder Einbürgerung können dort gefunden werden, sowie Schreiben von Einheimischen, die bestimmte Verfahren unterstützten oder sich dagegen aussprachen. Hierzu fand die Historikerin ein interessantes Aktenstück aus dem norddeutschen/dänischen Raum über einen Lehrer. Der Lehrberuf war zu Beginn des 19. Jahrhundert kein sehr angesehener und außerdem schlecht bezahlter Beruf, z. T. wurden Lehrkräfte von der Landbevölkerung mit Naturalien bezahlt. Aber sie konnten schreiben und nutzten diese Fähigkeit auch. Um ihr Anliegen (Einbürgerung o. ä.) bei einem Fürsten oder anderen Herrschenden vorzubringen, schrieben einige Lehrende über mehrere Jahre hinweg Briefe an die Adeligen. Zusätzlich waren sie eine sehr mobile Gruppe – also nahezu perfekte Untersuchungsobjekte für eine Migrationsforscherin.

Die Briefe eines Lehrers an den dänischen König blieben erhalten und beinhalten die Bitte, ein dänischer Staatsbürger in Schleswig-Holstein (zu diesem Zeitpunkt ein Teil von Dänemark) werden zu dürfen, da dies sein zweites Heimatland geworden sei. Dies wurde dem Lehrer jedoch verwehrt, vielleicht auch, weil er (selbst für damalige Zeiten) zu brutal zu den Kindern und ein Alkoholiker war, weshalb die Eltern in weiterer Folge sogar dafür sorgten, dass er entlassen wurde.

„Das fand ich eine ganz interessante Geschichte: So ein Fall, den ich mir wegen Migrationsfragen anschaue und dann auf ganz viele andere Felder komme. Von Kindererziehung, Gewalt, Alkoholmissbrauch, Schule und Erziehung, Anerkennung des Lehrer*innenberufes, bis hin zur Professionalisierung des Lehrerberufes. Da kommt man in viele andere Forschungsfelder. […] Manchmal gibt es so Fälle, an denen sich bestimmte Punkte kristallisieren und das finde ich immer sehr interessant!“

Zugehörigkeit

„Auf lokaler Ebene hat Zugehörigkeit sehr viel einfacher funktioniert, als wir uns das vielleicht heute vorstellen“,

hält Harders hierzu fest. Es wurde beispielsweise gern gesehen, wenn die Migrant*innen einen bestimmten Beruf, besondere Fähigkeiten oder finanzielle Ressourcen mitbrachten. Wie sich die Alltagskommunikation der Einheimischen und der „Zugezogenen“ gestaltet hat, kann anhand der Archivalien leider nicht oder zumindest nur sehr selten herausgefunden werden. Es zeichnet sich aber das Bild ab, dass es der Staat den Migrant*innen sehr oft durch formelle Ausschlüsse erschwert hat, ein neues Zuhause zu finden.

Die Historiker Jan und Leo Lucassen haben quantitative Berechnungen zur Migration in Europa im 19. Jahrhundert angestellt. Laut ihren Forschungen war ein Drittel der Menschen in Europa mobil. Das bedeutet, Mobilität war damals keine Besonderheit, sondern ein Alltagsphänomen. Es handelte sich allerdings vermehrt um nahe Migration, also in einem Radius von 100 bis 200 Kilometern, was u. a. durch die Verkehrsmittel der damaligen Zeit bedingt war. Da in diesem Umkreis meist die gleiche Sprache gesprochen wurde und die meisten Menschen die gleiche Konfession besaßen, kam es dort weniger zu „Fremdheitserfahrungen“. In Regionen die multikonfessionell geprägt waren, wie z. B. das Elsass, können bestimmte religiöse Differenzlinien gefunden werden, jedoch war dies selten eine große Hürde, um sich in der lokalen Gemeinschaft zu integrieren.

Geschlechter- und Migrationsgeschichte

Harders setzte bereits in ihrem Studium ihren Schwerpunkt auf Geschlechtergeschichte. Dies war die grundlegende Kategorie ihrer bisherigen Forschung und von dort ausgehend begann sie sich für Intersektionalität zu interessieren: Dieser Begriff meint die Verknüpfung verschiedener Ungleichheitskategorien bzw. Dimensionen. Sie geht der Frage nach wie die Kategorien Geschlecht, Religionen, Migration, „Race“ (als zeitgenössische Kategorie) und auch „Klasse“ sich gegenseitig bedingen bzw. beeinflussen.

Dazu kommt auch noch eine persönliche Verknüpfung zum Forschungsinteresse:

„Ich komme vom Land, aus einer Familie, in der vermeintlich wenig Migration stattgefunden hat. Wenn man aber genauer hinschaut, dann findet sich auf einmal eben doch Migration. Genau das hat mich auch interessiert: Lokal und regional, im ländlichen Raum im 19. Jahrhundert zu schauen, wie ist eigentlich mit Migration umgegangen worden – natürlich auch vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Debatten“.

„Wissenschaft ist Teil von Gesellschaft“

Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat Levke Harders auch einen Blog, in welchem sie ihre aktuellen Forschungen und andere Themenfelder „kurz und knackig“ präsentiert. Dies soll dazu beitragen, wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zusätzlich ergibt sich für die Leser*innen die Möglichkeit am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Ein Blog bietet die Möglichkeit, die eigene Forschung zu begleiten und auch noch nicht fertige Publikationen schneller erreichbar zu machen, was Harders besonders schätzt. Zu einem richtigen „Dauerbrenner“ hat sich ein Blogbeitrag entwickelt, der als Gastbeitrag ihrer studentischen Mitarbeiter*innen entstanden ist. Dabei geht es um eine Transkriptionshilfe zu Handschriften aus dem 19. Jahrhundert, die sogar Jahre nach der Veröffentlichung immer wieder von Studierenden gesucht bzw. gefunden und herangezogen wird.

Kann man aus der Geschichte lernen?

„Eine historische Situation ist sehr komplex und auch von Widersprüchen geprägt, da sich historische Akteure und Akteurinnen anders verhalten haben, als wir vielleicht denken würden. Deshalb finde ich es auch toll, historische Akteur*innen ins Zentrum zu rücken, […] über individuelle Lebensgeschichten auf Struktur- und Machtverhältnisse hinzuweisen […] und diese erklären zu können. […] Selbst wenn es nur Bruchstücke sind, lässt sich damit eine gute Verbindung zu heutigen Fragen und Problemen herstellen“,

hält Harders am Ende des Interviews fest. Es müssen und sollen nicht immer Parallelen zwischen Heute und Vergangenheit gesucht werden. Ein „Befremdungsaspekt“ ist sehr wichtig, da Geschehnisse, Strukturen etc. aus dem 19. Jahrhundert von der (eigenen) Lebensrealität im 21. Jahrhundert nahezu unendlich weit weg sind. Die Frage „Kann man aus der Geschichte lernen?“ kann pauschal nicht beantwortet werden. Migration und Geschlechterverhältnisse waren und sind nicht „ahistorische Kontinua“, sondern unterliegen einer ständigen Transformation – was auch wichtig ist, denn nichts ist über alle Zeiten hinweg in Stein gemeißelt.

Weiterführende Links:

Link zum Blog:
https://belonging.hypotheses.org/

Uni Homepage:
https://www.uibk.ac.at/geschichte-ethnologie/mitarbeiterinnen/univ-prof/harders-levke/

Instagram:
https://www.instagram.com/gender.inn/

Twitter:
https://twitter.com/LevkeHarders

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